Ausschnitt aus dem Kapitel über Willy Fritschs ersten Ufa-Film.
Über Bremen auf die große Leinwand
Unglücklich über das Ende der dreieinhalbjährigen Tätigkeit am Deutschen Theater ist Willy Fritsch nicht. Zu lange schon spielt er als ewig zweite Besetzung: »Vier Jahre bei Reinhardt. Kleine Rollen. Wenig Hoffnung, jemals unter die Großen jener Zeit eingereiht zu werden. Immer ein bisschen zu wenig Geld in der Tasche. […] Niemand wollte mich entdecken. Ich beschloss, mein Glück außerhalb Berlins zu versuchen«(1), erinnert er sich Jahrzehnte später gegenüber der Zeitschrift Quick.
Durch einen Theateragenten erhält er ein Engagement als jugendlicher Liebhaber, Held und Komiker in erster Besetzung an den Bremer Kammerspielen. »Bobby, sag’ die Wahrheit« heißt das Lustspiel, dessen Aufführung für den Spätsommer 1923 in dem kleinen, privat geführten Theater angesetzt ist. Wie aber die Zeit überbrücken? Es ist Frühling, und bis zum Beginn der Proben ist monatelang Zeit. Erneut kommt ihm der Zufall zu Hilfe.
Paul Hartmann, Star des Deutschen Theaters und Fritschs heimliches Vorbild, hat ein Filmangebot erhalten, aber weder Zeit noch Lust darauf, denn gesucht wird ein Darsteller für die Rolle eines hilflosen Kriegsblinden, der im Happy End seine Krankenschwester heiratet. Eine cineastische Tragödie im Stil der Zeit. Die Frage, ob Willy Fritsch dafür der Richtige ist, stellt sich nicht, denn er braucht Geld und nimmt daher die Vermittlung Hartmanns zu dessen Freund und Regisseur des Films, Benjamin Christensen, gern an. »Seine Frau, die Unbekannte« lautet der Filmtitel. Die große Unbekannte, die von ihrem blinden Gatten nicht erkannt wird, spielt Lil Dagover. Durch ihre ersten Rollen, unter anderem für Fritz Lang in »Der müde Tod«, ist sie 1923, wie Paul Hartmann, bereits ein Star.
Fritsch ist keiner und muss sich deshalb, trotz Vermittlung, zunächst einem Casting stellen. Schließlich geht es um die Hauptrolle. Als Produktionsfirma des Films agiert die »Decla-Bioscop«, einst zweitgrößte Filmgesellschaft im Deutschen Reich, jedoch mittlerweile eine Tochtergesellschaft des Ufa-Filmkonzerns. Ihr Produktionschef heißt Erich Pommer – ein gestandener Filmboss mit achtjähriger Branchenerfahrung und seit seinem Welterfolg von 1919 mit dem Film »Das Kabinett des Dr. Caligari« ein wichtiger Mann. Doch zunächst tritt Willy Fritsch nicht ihm, sondern dem Dänen Benjamin Christensen gegenüber.
Im ersten Durchlauf des Castings geht alles gut. Schließlich bleiben nur noch ein schwedischer Bewerber und Fritsch übrig. Er erinnert sich an Christensens Unsicherheit: »[Christensen] holte mich immer wieder vor die Probekamera. Mein Gesicht gefiel ihm – mein Ausdruck nicht. Ich fand einfach den tragisch verschwommenen Blick nicht, den man damals im Stummfilm so schätzte. Ich war ein lustiger Mensch, der das Leben von der leichten Seite nahm. ›So geht es nicht, Herr Fritsch‹, stöhnte Christensen nach dem zehnten Versuch. ›Sie werden nie im Leben ein vernünftiger Kriegsblinder. Machen wir Schluss. Ich nehme den Schweden‹.«(2)
Aus Nervosität kann sich Fritsch nicht mehr beherrschen. Er lacht über seine Ablehnung, er lacht aus vollem Halse. Die Anwesenden sind verdutzt, doch plötzlich gibt Christensen seinem Kameramann ein Zeichen: »Kurbeln Sie doch! Kurbeln Sie, wie er lacht!«(3). Fritsch erinnert sich weiter: »›Lachen Sie!‹, schrie er mich an, ›Mensch, lachen Sie! Lachen Sie weiter! Großartig! Fabelhaft!‹. Und er selber begann zu lachen. Und ich lachte wieder. Wir lachten uns an. Es war entsetzlich.«(4)
Willy Fritsch bekommt die Rolle. Seine erste Hauptrolle. Benjamin Christensen begeistert Fritschs Lachen so sehr, dass er das gesamte Drehbuch von der Tragödie zur Komödie umschreibt: der ursprünglich Blinde kann schnell wieder sehen und macht sich unter allerlei Turbulenzen innerhalb der Filmhandlung auf die Suche nach seiner Frau, die sich aus Angst, er könne sie sehend nicht mehr lieben, vor ihm versteckt hält.
Die Arbeiten beginnen Mitte Mai. Angesetzt sind vierzig Drehtage, von denen Willy Fritsch achtunddreißig in den UFA-Ateliers in Berlin-Tempelhof sowie für die Außenaufnahmen in den Kulissen der Filmstadt Neubabelsberg sein muss. Nach seinem Tod erzählt Lil Dagover: »Ich war ja auch noch sehr jung damals, aber er war ganz stolz darauf, mein Partner zu sein. Es war immer eine Erholung, wenn er ins Atelier kam – ein frischer Bursche, reizend und charmant, immer gut gelaunt und niemals müde, auch wenn es noch so lange dauerte. Er war voller Zukunftsglauben, Mut und Heiterkeit, ein durch und durch positiver Mensch.«(5)
Gemessen an seinen bisher gedrehten Filmen ist der Ablauf der Dreharbeiten zu »Seine Frau, die Unbekannte« erstmals wirklich professionell. Sogar Dialoge sind in die Handlung des Stummfilms eingearbeitet. Damit sich ihre Lippen natürlich bewegen, sprechen die Schauspieler Sätze an, die im fertigen Film um eine Schrifttafel ergänzt werden. Nicht immer stimmen die Texte überein, denn die Schauspieler necken sich untereinander. In seinen Memoiren berichtet Willy Fritsch: »Eines Tages schließlich ist dieses Herumalbern der Stars dann auf eine überraschende Weise aufgeflogen. Das war, als man irgendwo eine Sondervorstellung für Taubstumme veranstaltete, die den Schauspielern des stummen Films natürlich die in Wahrheit gesprochenen Sätze von den Lippen ablesen konnten. Beispielsweise so: ›Ich liebe Dich!‹ las man auf der Schrifttafel. Die Taubstummen aber lasen von den Lippen: ›Du riechst nach Knoblauch, Schätzchen!‹. Oder so was.«(6)
Parallel zu den Dreharbeiten ist Fritsch erstmals ernsthaft verliebt. Nicht in die Hauptdarstellerin wie sonst, denn auch Lil Dagover ist bereits vergeben. Gefallen findet vielmehr das Model eines Modesalons am Bayerischen Platz in Berlin, wo die Produktion ihre Kostüme herstellen lässt. Die dunkle Schöne namens Ina erhält sogar eine kleine Nebenrolle im Film. Fritsch beginnt mit ihr eine zwar kurze, aber heftige Affäre, nachdem er sie zuvor dem Mitbesitzer des Salons, Adi Holländer, ausgespannt hat. Dieser ist offenbar nicht nachtragend, denn er wird nicht nur bester Freund des Schauspielers, sondern auch sein Manager, der ihn bis in die ersten Tonfilmjahre hinein begleitet und später am noblen Kurfürstendamm 91 ein Büro unterhält.(7)
Die Premiere seines ersten Ufa-Films am 19. Oktober 1923 im Berliner Tauentzienpalast absolviert Willy Fritsch an der Seite seiner Freundin Ina. Einzig für diesen Abend ist er von seinem mittlerweile in Bremen begonnenen Theaterengagement nach Berlin zurückkehrt. Lil Dagover erzählt über diesen Freitagabend: »Willy kam eigens von irgendwo angereist und saß mit Erich Pommer und mir in der Direktionsloge. Der Film wurde glänzend aufgenommen, nach der Vorstellung verbeugten wir uns und dankten für den Beifall. Ich erinnere mich, dass Willy besonders aufgeregt war, nicht, weil dies seine erste große Filmpremiere war – vorher hatte er nur billige Lustspielchen gedreht –, nein, er war schrecklich nervös, weil seine Eltern unter den Zuschauern saßen.«(8)
In der Tat sind die Eltern nach jahrelangen Diskussionen an diesem Abend besonders stolz auf ihren Sohn. Anni Fritsch hat Tränen in den Augen. Willy Fritsch hingegen erinnert sich noch einige Jahre später schlicht an Ina und schreibt in einem Essay für die Zeitschrift Mein Film: »Ich war damals wirklich noch ein grüner Junge. Und nicht nur filmgrün. Aber mit einem Herzen voll Liebe zur Kunst. Und zu Ina. So hieß mein damaliges Ideal. Auch mein erstes. Gott, war das Mädel süß…! […] Und eines Tages saß ich mit hochgeschwellter Brust in der Premiere meines Films. Mit einem Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt. Und neben mir saß die süße Ina. Sie fand das Werk entzückend, gottvoll.«(9)
Gar nicht gottvoll ist das, was zur selben Zeit vor den Türen des Tauentzienpalastes vor sich geht. Dort nämlich stehen die Berliner, nachdem das Ladenschlussgesetz außer Kraft gesetzt wurde, nach Brot an, dessen Preis sich am Tag der Filmpremiere auf 620 Millionen Mark erhöht. Der Zweckverband der Bäckermeister Groß-Berlins teilt weiter mit, dass eine Schrippe achtzehn Millionen Mark kostet, nachdem sich der Mehlpreis innerhalb von drei Tagen um sieben Milliarden vervielfacht hat.(10) Seit 1921 grassiert die Inflation im Deutschen Reich. Erst schleichend, doch seit dem Sommer 1922 immer schneller. Im Herbst 1923 schließlich erreicht sie ihren Höhepunkt: eine Kinokarte kostet im Oktober 1923 stolze neunhundert Millionen Mark.(11) Dem Zulauf der Kinos tut dies dennoch keinen Abbruch. In der Krise lässt sich die Bevölkerung gern ablenken, und verglichen mit dem Brotpreis ist der Eintrittspreis verhältnismäßig moderat. Aufgrund eines hohen, an den Staat abzuführenden Steuersatzes leiden eher die Kinobesitzer.
Wie viel Willy Fritsch für sein Zugticket bezahlt hat, das ihn am Tag nach der Premiere zurück nach Bremen bringt, erschließt sich heute nicht mehr. Durch verschiedene Quellen überliefert ist jedoch die Reaktion des gewichtigen Produzenten Erich Pommer, der einige Tage später die verschiedenen Kritiken des Films studiert. Während der Film-Kurier am 16.10.1923 Fritsch noch vor der Premiere bescheinigt, zwar kein großes Licht, aber im Besitz eines strahlenden Lächelns zu sein, schlagen die Berliner Tageszeitungen andere Töne an. Der Hauptdarsteller erinnert sich: »Die Kritiken übertrafen alle Erwartungen. Das 8-Uhr-Blatt sagte mir ›viel übermütiges Temperament‹ nach, die Deutsche Allgemeine Zeitung fand mich ›flott und munter‹, der Vorwärts gar ›bezaubernd in seiner Natürlichkeit‹ und hoffte, ›man würde Fritsch in Zukunft wohl des öfteren im Film begegnen‹«(12)
Diese Kritiken liest auch Pommer. Man sagt ihm eine gute Nase nach. Er sei stets am Zahn der Zeit und involviert auch in künstlerische Prozesse eines Films. Sein Kapital innerhalb der Ufa sind die Stars, von denen er beispielsweise mit Conrad Veidt oder Werner Krauss schon etliche für die »Decla-Bioscop« verpflichten konnte. Seiner nächsten Kapitalanlage ist er sich ganz sicher und verlangt nach Willy Fritsch, der bereits wieder auf der Bühne der Bremer Kammerspiele steht. Pommer schickt seinen PR-Manager Julius Sternheim an die Weser. …
(1) in: Willy Fritsch und Thomas Fritsch in eigener Sache – Wie war das bei dir, Papa? Zwei Stars, Vater und Sohn, erzählen ganz offen ihr ganz privates Leben., Quick Nr. 45 vom 08.11.1964, S. 70
(2) in: ebenda, S. 70
(3) vgl. Curt Riess. Das gab’s nur einmal, 1956. Verlag der Sternbücher GmbH, S. 198
(4) vgl. Die Willy Fritsch Memoiren – Mein Herz lässt Euch grüßen!, Teil 8 in Funk-Uhr vom 24.06.1972, S. 17, archiviert im Unternehmensarchiv der Axel-Springer-SE Berlin
(5) Lil Dagover in »Welt am Sonntag« vom 15.07.1973
(6) in: Die Willy Fritsch Memoiren, a.a.O., Teil 8 vom 24.06.1972, S. 50
(7) vgl. Erster Internationaler Tonfilm-Almanach 1930, Hrg. Hermann Wendt G.m.b.H. Berlin, S. 35
(8) in: Lil Dagover. Ich war die Dame. Moewig Memoiren, Franz Schneekluth Verlag, München 1979, S. 134
(9) Erinnerungen an eine unbekannte Frau in: Mein Film Nr. 24/1926, S. 9
(10) Berliner Lokal-Anzeiger vom 18.10.1923 – Meldung: Brot ab morgen 620 Millionen
(11) vgl. Axel Schildt, Auf Expansionskurs in Das UFA-Buch, Hrg. Hans-Michael Bock/Michael Töteberg, 1992 Verlag Zweitausendeins, S. 171
(12) in: Willy Fritsch – …das kommt nicht wieder. Erinnerungen eines Filmschauspielers, Werner Classen Verlag Zürich/Stuttgart, 1963, S. 15